DAS GEHEIME LEBEN DER AMEISEN
Als Oromis
und Glaedr außer Sichtweite waren, sagte Saphira: Noch ein Drache, Eragon! Kannst du das
glauben? Er tätschelte ihre Schulter. Es ist wunderbar. Während sie über Du
Weldenvarden hinwegflogen, kündeten unter ihnen nur feine, zwischen
den Baumkronen aufsteigende Rauchfahnen von der Anwesenheit der
Waldbewohner.
Ich hätte nie damit
gerechnet, einmal einem anderen Drachen außer Shruikan zu begegnen.
Natürlich hoffte ich auf die Dracheneier, die wir vielleicht von
Galbatorix zurückerobern werden, aber an mehr habe ich nicht zu
denken gewagt. Und jetzt das! Saphira schüttelte sich vor
Freude. Glaedr ist unglaublich, findest
du nicht? Er ist so alt und stark und seine Schuppen schillern so
schön! Er ist bestimmt zwei- oder dreimal größer als ich. Hast du
seine Klauen gesehen? Sie…
In den nächsten Minuten zählte Saphira
überschwänglich Glaedrs Vorzüge auf. Aber noch deutlicher als ihre
Worte sprachen ihre aufgewühlten Gefühle zu Eragon: In ihrer Freude
und Begeisterung eingewoben war etwas, das er nur als schmachtende
Sehnsucht bezeichnen konnte.
Eragon versuchte, Saphira zu berichten, was
Oromis erzählt hatte - sie hatte ihnen bestimmt nicht zugehört -,
aber er konnte sie nicht von ihrem neuen Lieblingsthema abbringen.
So saß er schweigend auf ihrem Rücken und fühlte sich wie der
einsamste Mensch der Welt, während unter ihnen ein smaragdgrüner
Ozean vorbeizog.
Zurück im Baumhaus, beschloss Eragon, sich
heute nicht in Ellesméra umzusehen. Er war zu erschöpft von den
Ereignissen des Tages, ganz zu schweigen von der wochenlangen
Reise. Und Saphira war mehr als zufrieden, auf ihrem Podest zu
liegen und versonnen von Glaedr zu schwärmen. Eragon erforschte
unterdessen die Geheimnisse der elfischen Waschkammer.
Der Morgen kam und mit ihm ein in
Zwiebelschalenpapier gewickeltes Päckchen, das die von Oromis
versprochene Rasierklinge und einen Spiegel enthielt. Die Klinge
war von elfischer Machart, deshalb musste man sie nie schärfen oder
einfetten. Eragon verzog das Gesicht, als er sich vorsichtig ins
heiße Badewasser sinken ließ, dann nahm er den Spiegel und schaute
sich an.
Ich sehe älter aus.
Älter und erschöpft, dachte er. Aber das war nicht die
einzige Veränderung, die ihm auffiel: Seine Züge waren nun schärfer
und verliehen ihm ein asketisches, falkenhaftes Aussehen. Er war
kein Elf, aber wer ihn genau ansah, würde sich zumindest fragen, ob
er elfische Vorfahren hatte. Eragon strich das Haar zurück, um
seine Ohren zu betrachten, die mittlerweile spitz zuliefen - ein
weiterer Hinweis darauf, wie seine Zusammengehörigkeit mit Saphira
ihn veränderte. Er berührte ein Ohr und fuhr mit der Fingerspitze
die seltsam unvertrauten Konturen nach.
Es fiel ihm schwer, die Veränderungen an
seinem Körper zu akzeptieren. Obwohl ihm klar gewesen war, dass es
dazu kommen würde - es hatte ihn manchmal sogar beflügelt, weil es
bestätigte, dass er ein echter Drachenreiter war -, verwirrte es
ihn, jetzt, da es tatsächlich geschah. Einerseits fand er es
ungerecht, bei dieser Verwandlung kein Mitspracherecht zu haben,
andererseits war er neugierig, wie er am Ende aussehen würde.
Daneben war ihm natürlich klar, dass er auch als Mann gerade erst
richtig erwachsen wurde. Die vor ihm liegenden Veränderungen
erschienen ihm wie ein Reich, in dem es nur so wimmelte von
Geheimnissen und Problemen.
Wann weiß ich endlich,
wer und was ich bin?
Er hielt sich die Rasierklinge an die Wange,
wie er es bei Garrow gesehen hatte, und zog die Schneide abwärts.
Der Bartflaum löste sich, aber die zurückbleibenden Stoppeln waren
rau und uneben. Beim zweiten Versuch hielt er die Klinge etwas
schräger und hatte mehr Erfolg.
Als er am Kinn ankam, rutschte er ab und
schnitt sich tief in die Haut. Er jaulte auf, ließ die Klinge
fallen und drückte einen Finger auf die stark blutende Wunde. Mit
zusammengebissenen Zähnen zischte er: »Waíse heill!« Sofort verebbte der Schmerz,
als die Magie den Schnitt schloss, doch vor lauter Schreck pochte
Eragons Herz noch immer wie wild.
Eragon, geht es dir
gut?, rief Saphira erschrocken. Sie schob den Kopf ins
Vestibül, stieß mit der Schnauze die Tür zur Waschkammer auf und
blähte wegen des Blutgeruchs die Nüstern.
Ich werd’s
überleben, versicherte ihr Eragon.
Sie beäugte das blutschlierige
Wasser. Sei vorsichtig, Kleiner! Besser,
du bist struppig wie ein Reh beim Fellwechsel, als dass du dich
wegen einer Rasur enthauptest.
Ganz meine Meinung.
Keine Sorge, ich pass schon auf.
Mit einem spöttischen Schnauben zog Saphira
den Kopf zurück.
Eragon setzte sich auf und musterte die
Rasierklinge argwöhnisch. Schließlich brummte er: »Ach, was
soll’s.« Er sammelte sich, ging seinen Wortschatz der alten Sprache
durch, wählte den richtigen Ausdruck und murmelte einen
improvisierten Zauberspruch. Seine Bartstoppeln verwandelten sich
in schwarzen Staub, der ins Badewasser herabrieselte und sein Kinn
glatt und sauber zurückließ.
Nach dem Bad und der - magischen - Rasur
sattelte Eragon Saphira, die, kaum dass er aufgesessen war, in die
Lüfte stieg und nach Tel’naeír flog. Oromis und Glaedr erwarteten
sie schon vor der Hütte.
Als Erstes inspizierte Oromis Saphiras
Sattel. Er strich über jeden einzelnen Riemen, hielt an jeder
Schnalle inne, prüfte die Nähte. Schließlich erklärte der Elf, dass
der Sattel trotz der Umstände, unter denen er hergestellt worden
war, ein recht passables Stück sei. »Brom war immer geschickt mit
den Händen. Nimm diesen Sattel, wenn du schnell reisen musst. Aber
wenn du Zeit hast …« Er ging in die Hütte und kam gleich darauf mit
einem schweren, formvollendeten Sattel heraus, dessen Sitzfläche
und Beinteile mit goldenen Ornamenten verziert waren. »Wenn du Zeit
hast, nimm diesen hier. Er wurde in Vroengard angefertigt und ist
mit vielen Zaubern belegt, die dir in der Not gute Dienste erweisen
werden.«
Eragon schwankte unter dem Gewicht, als
Oromis ihm den Sattel in die Arme drückte. Er hatte die gleiche
Grundform wie der von Brom. Die Beinteile waren mit Schnallen
versehen, um den Reiter im Sattel zu halten. Der tiefe Ledersitz
sah so bequem aus, dass Eragon darin wahrscheinlich stundenlang
unbeschwert fliegen konnte, ganz gleich ob er nun aufrecht saß oder
sich an Saphiras Hals schmiegte. Die Brustgurte hatten zahllose
Schlaufen und Druckknöpfe, um den Sattel anpassen zu können, wenn
der Drache größer wurde. Am Sattelknauf hingen mehrere breite
Lederschlaufen, deren Funktion Eragon nicht kannte. Er fragte
Oromis danach.
Glaedr antwortete mit brummender
Stimme: Die Schlaufen sind dazu da, deine
Handgelenke und Arme festzuschnallen, damit du nicht totgeschüttelt
wirst, wenn Saphira tollkühne Überkopf-Manöver fliegt.
Oromis half Eragon, Saphira den alten Sattel
abzunehmen. »Saphira, du wirst heute Glaedr begleiten, und ich
arbeite hier mit Eragon.«
Wie Ihr wünscht,
Meister, antwortete Saphira, die vor Aufregung kaum noch
stillhalten konnte. Glaedr wuchtete seinen goldenen Leib in die
Höhe und stieg mit mächtigen Flügelschlägen in nördlicher Richtung
auf, dicht gefolgt von Saphira.
Oromis gab Eragon keine Zeit, ihr lange
nachzublicken. Der Elf führte ihn zu einem Weidenbaum am Rand der
Lichtung, wo er sich in einem Rechteck aus festgetretener Erde vor
Eragon hinstellte und erklärte: »Was ich dir jetzt zeigen werde,
heißt Rimgar oder ›Tanz von Schlange und Kranich‹. Er besteht aus
einer Reihe von Übungen, die entwickelt wurden, um unsere Krieger
für den Kampf zu stählen. Heutzutage üben sich die Elfen darin, um
gesund und beweglich zu bleiben. Der Rimgar hat vier ansteigende
Schwierigkeitsstufen. Wir beginnen mit der ersten.«
Die Furcht vor dem bevorstehenden Martyrium
erfüllte Eragon mit einem so elenden Gefühl, dass er sich kaum
rühren konnte. Er ballte die Fäuste und starrte mit angezogenen
Schultern auf seine Fußspitzen. Die Narbe an seinem Rücken war
deutlich zu spüren.
»Entspann dich«, riet ihm Oromis. Mit einem
Ruck öffnete Eragon die Fäuste und drückte die Arme durch. »Du
sollst dich entspannen, Eragon! Du kannst den Rimgar nicht lernen,
wenn du steif bist wie ungegerbtes Leder.«
»Ja, Meister.« Eragon schnitt eine Grimasse
und löste langsam die Spannung in den Muskeln und Gelenken, bis nur
noch ein störrischer Knoten im Bauch übrig war.
»Stell die Füße dicht nebeneinander und lass
die Arme locker herunterhängen. Schau geradeaus. Jetzt atme tief
ein und heb die Arme über den Kopf, bis sich deine Handflächen
berühren … Ja, genau so. Atme aus, und beug dich, so weit du
kannst, vor, lege die Handflächen auf den Boden, atme ein … und
jetzt spring nach hinten! Gut. Atme wieder ein, und beim nächsten
Ausatmen hebst du die Hüften, sodass dein Körper ein Dreieck
bildet. Atme tief in den Bauch … lass den Atem ausströmen. Und
ein... und aus. Ein … und aus.«
Zu Eragons grenzenloser Erleichterung
verursachten die sanften Übungen keinen Schmerz im Rücken, obwohl
sie so anstrengend waren, dass er zu schwitzen begann. Er grinste
breit, glücklich, für den Augenblick verschont zu bleiben. Seine
Müdigkeit verflog, und er glitt immer kraftvoller und
enthusiastischer durch die verschiedenen Übungen, die seine
Beweglichkeit allerdings noch weit überforderten. So gut hatte er
sich schon lange nicht mehr gefühlt. Vielleicht bin ich ja geheilt!
Oromis machte die meisten Übungen mit. Seine
Kraft und Gelenkigkeit verblüfften Eragon - schließlich war sein
Meister uralt.
Der Elf führte die Zehen zur Stirn und
wirkte dabei vollkommen beherrscht, als würde er sich bloß am Kopf
kratzen. Er gab seine Anweisungen ruhiger und geduldiger als Brom,
achtete aber streng darauf, dass Eragon jede Übung absolut präzise
ausführte.
»Lass uns den Schweiß abwaschen«, sagte
Oromis, als sie den Rimgar beendet hatten.
Sie gingen zum Bach hinter der Hütte und
zogen sich aus. Eragon beobachtete den Elf verstohlen. Er war
neugierig, wie Oromis unter dem Gewand aussah. Obwohl er sehr dünn
war, zeichneten sich seine Muskeln unter der straffen Haut so
deutlich ab wie die Erhebungen bei einer Holzschnitzerei. Brust und
Beine und sogar der Schritt waren unbehaart. Sein Körper wirkte
beinahe mädchenhaft, verglichen mit denen der stämmigen Männer, die
Eragon aus Carvahall kannte, doch seine Gliedmaßen besaßen die
anmutige Geschmeidigkeit einer Raubkatze.
Nach dem Waschen führte Oromis Eragon tief
in den Wald zu einer Baumgrotte, deren Äste und Flechten
vollständig den Himmel verdeckten. Ihre Füße versanken bis zu den
Knöcheln im feuchten Moos. Stille umfing sie.
Oromis deutete zur Mitte des unbewachsenen
Runds, wo ein weißer Baumstumpf mit flacher, glatt polierter
Oberseite stand, und sagte: »Geh dort hinüber!« Eragon tat wie
geheißen. »Setze dich in den Schneidersitz und schließe die Augen.«
Dunkelheit schlug Eragon entgegen. Rechts von ihm hörte er Oromis
flüstern: »Nun öffne deinen Geist, Eragon. Öffne ihn und lausche
der Welt um dich herum! Lausche den Gedanken der Tiere, von den
Ameisen auf den Bäumen bis hin zu den Würmern im Boden. Lausche
ihnen, bis du sie verstehen kannst und ihre Natur und ihr Wesen
begreifst. Lausche, und wenn du damit fertig bist, komm zu mir und
berichte, was du gelernt hast.«
Dann erfüllte wieder Stille den Wald.
Eragon war sich nicht sicher, ob Oromis
gegangen war. Er senkte den Schutzwall um seinen Geist und schickte
ihn aus, genau wie wenn er auf große Entfernung Kontakt mit Saphira
aufnahm. Am Anfang sah er nur Leere, aber nach und nach flackerten
in der Dunkelheit kleine, warme Lichtpunkte auf und wurden heller,
bis er in einem Meer aus funkelnden Sternen saß, von denen jeder
einzelne ein Lebewesen war. Bisher hatte er seinen Geist immer nur
auf ein einzelnes Tier gerichtet: auf Cadoc, Schneefeuer oder
Solembum. Er hatte sich immer auf das Geschöpf konzentriert, mit
dem er Kontakt aufnehmen wollte. Aber das hier… Es war, als hätte
er taub inmitten einer tosenden Menschenmenge gestanden und würde
erst jetzt das ihn umgebende Stimmengewirr hören.
Plötzlich fühlte er sich verwundbar. Sein
Geist war der Welt schutzlos ausgeliefert. Wenn etwas in ihn
eindringen, ihn angreifen wollte, würde es jetzt durch nichts
aufgehalten. Unwillkürlich verkrampfte er sich und zog seinen Geist
zurück. Die Sternbilder des Lebens um ihn herum verblassten. Eragon
fiel die Übung ein, die ihm Oromis beigebracht hatte. Er atmete
ganz langsam aus und konzentrierte sich auf den ausströmenden
Luftstrom, bis er sich entspannt genug fühlte, um seinen Geist
wieder zu öffnen.
Die meisten Lebewesen, die er um sich herum
spürte, waren Insekten. Ihre schiere Anzahl verblüffte ihn: Auf
einem handtellergroßen Flecken Moos lebten hunderttausende von
ihnen und in der kleinen Baumgrotte wimmelte es bestimmt von
Millionen der flinken Winzlinge. Die Zahl der Insekten im ganzen
Wald musste unvorstellbar hoch sein. Es war beängstigend. Eragon
hatte immer gewusst, dass in Alagaësia verhältnismäßig wenige
Menschen lebten, aber er hätte nie gedacht, dass selbst Käfer ihnen
zahlenmäßig so weit überlegen waren.
Eragon konzentrierte sich auf die roten
Ameisen, die in langen Kolonnen über den Waldboden marschierten und
die Zweige eines Rosenbuschs erklommen. Es waren die einzigen
Insekten, über die er ein wenig wusste, zumal Oromis über sie
gesprochen hatte. Was er von ihnen auffing, waren weniger Gedanken
- dafür waren ihre Köpfe zu klein -, sondern eher Bedürfnisse und
Triebe: Eragon spürte ihren Hunger und ihre Vorsicht, sich beim
Herumflitzen nicht zu verletzen, und nahm ihren Paarungstrieb wahr.
Indem er ihren Instinkten nachspürte, entschlüsselte er nach und
nach das Verhalten der Ameisen.
Fasziniert stellte er fest, dass sie genau
wussten, welchen Weg sie zu nehmen hatten. Obwohl Eragon nicht
herausfinden konnte, welche Technik ihnen dabei half, wählten die
Ameisen immer die gleichen Routen von ihrem Bau zum Futter und
zurück. Ihre Nahrungsbeschaffung war eine weitere Überraschung. Wie
erwartet fraßen sie andere Insekten, aber ihre größte Mühe galt der
Kultivierung von … von irgendetwas, das in winzigen Punkten auf den
Rosenbuschblättern verteilt war. Um welche Lebensform es sich auch
handelte, sie war fast zu klein, um sie mit dem Geist zu erspüren.
Eragon richtete seine ganze Konzentration auf die fast unsichtbaren
Lebewesen und wollte unbedingt seine Neugier befriedigen.
Die Antwort war so einfach, dass er laut
auflachte: Blattläuse! Die Ameisen betätigten sich als
Blattlaushirten! Sie trieben die winzigen Tierchen zusammen und
schützten sie vor Feinden, und die Blattläuse gaben ihrerseits
flüssige Nahrungströpfchen an sie ab, wenn die Ameisen ihnen mit
den Fühlerspitzen die Bäuche kitzelten. Eragon konnte es kaum
glauben, aber je länger er ihnen zusah, desto sicherer war er sich,
dass es sich genau so verhielt.
Er folgte dem Weg der Ameisen durch ihr weit
verzweigtes unterirdisches Labyrinth, in dem sie eine Artgenossin
umsorgten, die sehr viel größer als die anderen war. Welchem Zweck
dieses Exemplar diente, wollte Eragon nicht klar werden. Er konnte
nur beobachten, wie ihre Diener um sie herumscharwenzelten und
kleine Klümpchen forttrugen, die die große Ameise in regelmäßigen
Abständen absonderte.
Nach einer Weile befand Eragon, dass er fürs
Erste genug über Ameisen erfahren hatte. Als er seinen Geist
zurückholen wollte, huschte ein Eichhörnchen an ihm vorbei. Da er
innerlich noch auf Insekten eingestellt war, kam ihm das kleine
Nagetier wie ein pelziges Ungetüm vor. Die vielen Sinneseindrücke
und Gefühle des Eichhörnchens waren überwältigend. Er roch den Wald
durch die Nase des Tiers, fühlte die nachgiebige Rinde unter den
scharfen Krallen und den Wind im buschigen Schwanz. Verglichen mit
einer Ameise sprühte das Tier vor Lebenskraft und es war ohne Frage
intelligent.
Im nächsten Moment sprang das Eichhörnchen
auf einen anderen Ast und verschwand aus Eragons Wahrnehmung.
Als er die Augen wieder öffnete, erschien
ihm der Wald viel dunkler und stiller als zuvor. Eragon atmete tief
durch und sah sich um. Zum ersten Mal wurde ihm wirklich bewusst,
wie viel Leben es auf der Welt gab. Er schüttelte die steifen Beine
aus und ging zu dem Rosenbusch.
Er bückte sich und betrachtete die Zweige
und Blätter. Er konnte die Blattläuse und ihre scharlachroten
Hirten deutlich erkennen, und auf dem Boden sah er das kleine
Häuflein aus Fichtennadeln, das den Eingang des Ameisenbaus
markierte. Es war seltsam, diese Dinge nun mit den Augen
anzuschauen: Nichts verriet die zahlreichen verborgenen
Zusammenhänge, die er inzwischen kannte.
Nachdenklich kehrte Eragon zur Lichtung
zurück und fragte sich, was er mit seinen Schritten wohl alles
tötete. Als er aus dem Schatten der Bäume hervortrat, sah er
erschrocken, wie dicht die Sonne schon überm Horizont
stand. Ich muss mindestens drei Stunden
auf dem Baumstumpf gesessen haben!
Als Eragon in die Hütte kam, schaute Oromis
von dem Text auf, an dem er gerade arbeitete. Der Elf schrieb die
begonnene Zeile zu Ende, dann säuberte er die Spitze des
Gänsefederkiels, verkorkte das Tintenfass und fragte: »Und, was
hast du gelernt, Eragon?«
Eragon war begierig, sein Erlebnis mit
Oromis zu teilen. Seine Stimme überschlug sich fast vor
Begeisterung, während er vom geheimen Leben der Ameisen berichtete.
Voller Stolz auf das gesammelte Wissen erzählte er alles, woran er
sich erinnerte, bis hin zu den kleinsten und nebensächlichsten
Beobachtungen.
Als er fertig war, sah Oromis ihn erstaunt
an. »Ist das alles?«
»Ich …« Eragon verstummte, als ihm klar
wurde, dass er offenbar nicht den Sinn der Meditation begriffen
hatte. »Ja, Ebrithil. Das ist alles.«
»Und was ist mit den Tieren in der Erde und
in der Luft? Kannst du mir sagen, was sie getan haben, während die
Ameisen ihre Blattläuse melkten?«
»Nein, Ebrithil. Das kann ich nicht.«
»Darin liegt dein Fehler. Du musst alle
Dinge gleichzeitig wahrnehmen, statt dir Scheuklappen anzulegen,
indem du dich nur auf etwas Bestimmtes konzentrierst. Das ist die
erste Lektion, die du lernen musst. Du wirst jeden Tag eine Stunde
lang auf dem Baumstumpf meditieren, bis du die Aufgabe gemeistert
hast.«
»Woher soll ich denn wissen, wann ich sie
gemeistert habe?«
»Du merkst es, wenn du ein Tier beobachtest
und gleichzeitig alle anderen spürst.«
Oromis winkte Eragon heran und legte ein
leeres Blatt Papier, einen Federkiel und ein Tintenfass vor ihm auf
den Schreibtisch. »Bisher musstest du mit lückenhaften Kenntnissen
der alten Sprache zurechtkommen. Zwar kennt niemand von uns alle
ihre Worte, aber du musst zumindest ihre Grammatik und Struktur
verstehen, damit du dich nicht durch ein falsch platziertes Verb
oder irgendeinen anderen Fehler umbringst. Ich erwarte nicht, dass
du unsere Sprache so gut wie ein Elf beherrschst. Das zu lernen,
würde ein Leben lang dauern. Aber ich möchte, dass du sie
gebrauchen kannst, ohne nachzudenken.
Außerdem musst du lernen, die alte Sprache
zu lesen und zu schreiben. Das wird dir nicht nur helfen, die Worte
zu behalten, es ist auch unabdingbar, wenn du dir einen besonders
langen Zauberspruch ausdenkst, den du dir nicht im Ganzen merken
kannst, oder wenn du irgendwo einen Zauberspruch liest und ihn
verstehen möchtest.
Jedes Volk hat sein eigenes Schriftsystem
für die alte Sprache entwickelt. Die Zwerge benutzen ein
Runenalphabet, das die Menschen von ihnen übernommen haben. Dabei
handelt es sich allerdings nur um Behelfslösungen. Um die
Feinheiten der alten Sprache ausdrücken zu können, braucht man
unser Liduen Kvaedhí, das Alphabet
der Poesie. Es besteht aus zweiundvierzig verschiedenen
Schriftzeichen, die unterschiedliche Laute darstellen. Man kann sie
zu einer nahezu unbegrenzten Zahl von Glyphen zusammenfügen, die
einzelne Wörter und ganze Sätze darstellen. Das Symbol auf deinem
Ring ist eine solche Glyphe, das auf deinem Schwert ebenso... Lass
uns beginnen. Nenne mir die grundlegenden Vokallaute der alten
Sprache!«
»Wie bitte?«
Schnell wurde offenkundig, dass Eragon keine
Ahnung von den Grundlagen der alte Sprache hatte. Als er mit Brom
umhergezogen war, hatte der alte Geschichtenerzähler ihn vor allem
Worte auswendig lernen lassen, die Eragon zum Überleben benötigte,
und seine Aussprache korrigiert. Auf diesen beiden Gebieten war er
recht fortgeschritten, aber davon abgesehen konnte er nicht einmal
den Unterschied zwischen einem bestimmten und einem unbestimmten
Artikel erklären. Falls Oromis Eragons Wissenslücken frustrierten,
ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Stattdessen bemühte er
sich mit Engelsgeduld, diese Lücken zu schließen.
Irgendwann bemerkte Eragon: »Bisher habe ich
bei meinen Zaubersprüchen nie besonders viele Worte gebraucht. Brom
hielt es für eine besondere Gabe, dass ich nur mit Brisingr schon so viel bewirken konnte. Ich
glaube, das Längste, was ich jemals in der alten Sprache gesagt
habe, war ein im Geiste gesprochener Satz zu Arya. Und als ich
einmal ein Waisenkind in Farthen Dûr gesegnet habe.«
»Du hast ein Kind in der alten Sprache
gesegnet?«, horchte Oromis erschrocken auf. »Erinnerst du dich an
den genauen Wortlaut?«
»Ja.«
»Bitte wiederhole ihn für mich!«
Eragon gehorchte, worauf sich auf den Zügen
seines Lehrmeisters blankes Entsetzen ausbreitete. »Du
hast skölir gesagt?«, stieß er
hervor. »Bist du dir sicher, dass es nicht sköliro war?«
Eragon runzelte die Stirn. »Nein, es
war skölir. Warum sollte ich das
denn nicht sagen? Skölir heißt
›meiden‹: ›… und möge das Unheil deinen Weg meiden.‹ Es war eine
gute Segnung.«
»Es war kein Segen, sondern ein Fluch!«
Eragon hatte Oromis noch nie so aufgebracht gesehen. »Das
Suffix -o bildet die
Objektbeziehungsform von Worten, die auf -r und -i enden. Mit skölirohieße es ›möge das Unheil deinen Weg meiden‹.
Mit skölir bedeutet der Satz:
›… und mögest du das Unheil anderer auf dich nehmen. ‹ Statt das
Kind vor den Launen des Schicksals zu schützen, hast du es dazu
verdammt, das Unglück anderer Menschen auf sich zu lenken und an
ihrer Stelle zu leiden, damit die anderen in Frieden leben
können.«
Nein, nein! Das kann
nicht sein! Eragon war zutiefst erschüttert darüber, dass
er das Leben eines wehrlosen Säuglings zerstört haben sollte. »Die
Wirkung eines Zaubers hängt doch nicht nur von den Worten ab,
sondern auch von der dahinter liegenden Absicht! Ich wollte der
Kleinen nichts Böses -«
»Aber du kommst nicht gegen das innere Wesen
eines Wortes an. Du kannst Begriffe zurechtbiegen oder ihnen eine
bestimmte Richtung geben, aber es ist nicht möglich, ihre Bedeutung
ins Gegenteil umzukehren.« Oromis legte die Fingerspitzen
aneinander und starrte auf die Tischplatte. Seine Lippen waren zu
einer schmalen weißen Linie zusammengepresst. »Ich glaube dir, dass
es keine böse Absicht war - sonst würde ich dich nicht weiter
unterrichten. Wenn du es ehrlich gemeint hast und reinen Herzens
warst, dann wird die Segnung vielleicht weniger Schlimmes
anrichten, als ich befürchte. Trotzdem wird sie großes Leid
verursachen.«
Ein unkontrolliertes Zittern erfasste
Eragon, als ihm bewusst wurde, was er dem Kind angetan hatte. Mit
leiser Hoffnung in der Stimme sagte er: »Da ist noch etwas … Es
macht meinen Fehler nicht ungeschehen, aber vielleicht mildert es
die Folgen: Saphira hat dem Mädchen ein Drachenmal auf die Stirn
gehaucht so wie mir damals auf die Handfläche.«
Zum ersten Mal in seinem Leben sah Eragon
einen sprachlosen Elf. Oromis riss die grauen Augen auf, die
Kinnlade klappte herunter, und er umklammerte seine Armlehnen so
fest, dass das Holz knarrend protestierte. »Ein Kind, welches das
Mal eines Drachen trägt und selbst doch kein Drachenreiter ist«,
flüsterte er fassungslos. »In all meinen Jahren bin ich noch nie
zwei von eurem Schlag begegnet. Eure Launen halten wirklich die
Welt in Atem.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Weder noch. Es ist einfach so. Wo ist das
Kind jetzt?«
Eragon brauchte einen Moment, um sich zu
sammeln. »Bei den Varden, entweder in Farthen Dûr oder schon in
Surda. Glaubt Ihr, dass Saphiras Stirnmal dem Mädchen helfen
wird?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Oromis. »So
etwas ist noch nie geschehen, deshalb kann ich nichts dazu
sagen.«
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, so
einen Fluch rückgängig zu machen, einen Zauber zu lösen«, flehte
Eragon.
»Das ist durchaus möglich. Aber damit ein
Gegenzauber richtig wirkt, musst du ihn selbst aussprechen, aber du
bist hier und wirst so schnell nicht fortkommen. Selbst im besten
Fall werden Reste deiner Magie dem Mädchen für immer zu schaffen
machen. Darin besteht die Macht der alten Sprache.« Er hielt kurz
inne. »Anscheinend begreifst du den Ernst der Lage, deshalb sage
ich das Folgende nur einmal: Du allein bist für das Unglück dieses
Mädchens verantwortlich, und deshalb ist es deine Pflicht, ihm zu
helfen, falls sich jemals die Gelegenheit dazu bietet. Dem Gesetz
der Drachenreiter zufolge ist sie dein persönliches Schandmal,
ebenso sehr, als wäre sie dein uneheliches Kind - was, wenn ich
mich nicht irre, bei den Menschen als sündhaft gilt.«
»Ja«, flüsterte Eragon. »Ich
verstehe.« Ich verstehe, dass ich in
meiner Unwissenheit das Leben eines wehrlosen Säuglings zerstört
habe. Und die Kleine kann nichts dagegen tun! Ich habe sie zu einer
Sklavin des Unheils gemacht. Ihm war auch bewusst, dass
er an ihrer Stelle den Schuldigen mit jeder Faser seines Wesens
hassen würde.
»Dann werden wir nicht mehr über diese
Angelegenheit sprechen.«
»Ja, Meister.«
Am Ende des Tages war Eragon noch immer
zutiefst deprimiert. Er fühlte sich elend und blickte kaum auf, als
sie aus der Hütte traten, um Saphira und Glaedr zu begrüßen. Die
Bäume bogen sich im Wind ihrer Flügelschläge. Saphira wirkte stolz
und zufrieden mit ihrem Tagewerk. Den Hals in die Höhe gereckt,
tänzelte sie auf Eragon zu, die Lippen zu einem wölfischen Grinsen
verzogen.
Ein Stein knirschte unter Glaedrs Gewicht,
als der uralte Drache Eragon ein tellergroßes Auge zuwandte und
fragte: Wie lautet Regel drei, um
Fallwinde zu erkennen, und Regel fünf, um ihnen
auszuweichen?
Eragon schreckte aus seinen finsteren
Gedanken auf und blinzelte verwirrt. »Keine Ahnung.«
Daraufhin wandte Oromis sich zu Saphira und
fragte sie: Welches Tier halten die
Ameisen in Herden und wie gewinnen sie Nahrung von
ihnen?
Woher soll ich das denn
wissen?, empörte sich Saphira.
Ein zorniger Glanz schimmerte in Oromis’
Augen. Er verschränkte die Arme und sagte mit nach wie vor ruhiger
Stimme: Nach allem, was ihr beiden erlebt
habt, bin ich davon ausgegangen, dass ihr zumindest die Grundlagen
des Daseins als Shur’tugal kennt: nämlich alles mit eurem Gefährten
zu teilen. Würdest du deinen rechten Arm hergeben, Eragon? Könntest
du mit nur einem Flügel fliegen, Saphira? Bestimmt nicht. Warum
vernachlässigt ihr dann eure Verbindung zueinander? Dadurch
ignoriert ihr eure größte Gabe - und euren größten Vorteil
gegenüber jedem Feind. Es geht nicht nur darum, dass ihr in
Gedanken miteinander sprecht. Ihr müsst eure Geister so
verschmelzen, dass ihr denkt und handelt wie einer. Ich erwarte,
dass jeder von euch zu jedem Zeitpunkt weiß, was der andere gelernt
hat.
Was ist mit unserer
Privatsphäre?, warf Eragon ein.
Privatsphäre?,
sagte Glaedr. Behaltet eure Gedanken von
mir aus für euch, wenn ihr abends nach Hause fliegt. Aber während
wir euch unterrichten, habt ihr keine Privatsphäre.
Eragon musterte Saphira und fühlte sich nun
noch elender als zuvor. Zuerst wich sie seinem Blick aus, dann trat
sie wie ein bockiges Kind auf den Boden und sah ihn direkt
an. Was starrst du so?
Die beiden haben Recht.
Wir waren nachlässig.
Das ist doch nicht
meine Schuld.
Das habe ich auch nicht
behauptet. Aber sie hatte erraten, was Eragon dachte. Die
Bewunderung, die sie Glaedr entgegenbrachte, gefiel ihm nicht. Er
hatte das Gefühl, dass Saphira sich von ihm
entfernte. Wir geben uns ab jetzt mehr
Mühe, abgemacht?
Natürlich!,
schnappte sie.
Doch war sie nicht bereit, sich bei Oromis
und Glaedr zu entschuldigen, sodass Eragon es für sie übernehmen
musste. Wir werden Euch nicht mehr
enttäuschen.
Das will ich auch
hoffen. Morgen wirst du zu Saphiras Erlerntem geprüft und Saphira
zu deinem. Oromis öffnete eine Hand. Darin lag eine kleine
Holzkugel. Wenn du sie regelmäßig
aufziehst, wird euch diese Apparatur jeden Morgen zur gleichen Zeit
wecken. Erscheint hier, sobald ihr gebadet und gefrühstückt
habt.
Eragon fand die Weckkugel überraschend
schwer, als er sie in die Hand nahm. Sie war nicht größer als eine
Walnuss. An der Seite befand sich ein kleines, geschnitztes Rädchen
in Form einer Moosrosenblüte. Versuchsweise drehte er dreimal daran
und vernahm drei kurze Klickgeräusche von einem verborgenen
Zahnrad. Danke, Meister, sagte
Eragon.